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E-Commerce und Versandhandel wachsen in Deutschland rapide. Im vergangenen Jahr hat die Branche laut neuesten Zahlen des Bundesverbands E-Commerce und Versandhandel einen Umsatz von 72,6 Milliarden Euro verzeichnet, was einem Zuwachs von 11,6 Prozent zum Vorjahreswert entspricht.

Doch mit dem Boom wachsen auch die Probleme. Mit zweifelhaften Praktiken versuchen sogenannte Abmahnverbände durch den Ausspruch einer Vielzahl meist unberechtigter Abmahnungen, einen Teil der steigenden Wirtschaftsleistung in ihre eigenen Taschen zu leiten. Immer mehr Unternehmer*innen sehen sich daher Abmahnungen wegen (vermeintlicher) wettbewerbsrechtlicher Verstöße ausgesetzt. Fand noch 2015 bloß ein Fünftel aller Online-Händler*innen ein solches Schreiben im Briefkasten, waren 2017 schon ganze 28 Prozent betroffen – Tendenz auch hier stark steigend.

Das Vorgehen gestaltet sich dabei immer gleich. Unter Behauptung, über die nach § 8 Abs. 3 Nr.2 UWG erhebliche Anzahl an Mitgliedern zu verfügen, mahnen Verbände Online-Unternehmer*innen unter Aufforderung zur Abgabe einer beigefügten Unterlassungserklärung ab. Eine Mitgliederliste, die die nach UWG genügende Anzahl von Mitgliedern belegen könnte, fügen die Verbände ihren Abmahnungen jedoch häufig nicht bei. Vielmehr zitieren sie standardmäßig eine Vielzahl von Gerichtsurteilen, die Unternehmer*innen oftmals beeindrucken und etwaige Zweifel an der Aktivlegitimation des Verbands nicht aufkommen lassen. Fordert ein*e Unternehmer*in einen Verband zur Vorlage der Mitgliederliste auf, legt er zumeist eine nicht brauchbare, weil geschwärzte Liste vor. Wer ohne Aufforderung zur Vorlage der Mitgliederliste besagte Unterlassungserklärung unterschreibt, hat schlechte Karten.

Mit der Abgabe einer Unterlassungsverpflichtungserklärung schafft die Unterlassungsschuldnerin eine vertragliche Grundlage, aus der sich die Gläubigerstellung des Fordernden direkt ableitet

Denn mit der Abgabe einer (schlimmstenfalls noch modifizierten) Unterlassungserklärung schafft man automatisch eine vertragliche Grundlage, aus der sich die Gläubigerstellung des Vertragspartners direkt ableitet. Auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 8 Abs.3 Nr.2 UWG kommt es dann nicht mehr an. Wenn man hingegen die Abgabe einer Unterlassungserklärung ohne die Vorlage einer nicht anonymisierten Mitgliederliste verweigert, nimmt man „lediglich“ eine Klage auf Abgabe dieser Unterlassungserklärung in Kauf – nebst einhergehender Prüfung der Aktivlegitimation des Verbands durch das Gericht.

Demnach lag der Fall vor dem LG Nürnberg denkbar schlecht. Die dortige Beklagte handelt online mit Lebensmitteln. Weil sie auf ihrer Website „Fertigpackungen nach Gewicht ohne Nennung des Grundpreises” präsentiert hatte, mahnte in diesem Fall der Interessenverband für das Rechts- und Finanzconsulting deutscher Online-Unternehmen e.V. (kurz IDO) sie im April 2019 ab. In seinem Schreiben machte der Verband dabei umfangreiche rechtliche Ausführungen zu seiner „gesetzlich verankerten Verbandsbefugnis zur Verfolgung von Wettbewerbsverstößen (…) aus § 8 Abs.3 Nr.2 UWG” und zitierte eine beträchtliche Anzahl von oberlandes- und landgerichtlichen Urteilen, die seine Aktivlegitimation belegen sollten. Eine Mitgliederliste legte der IDO nicht vor. Weiter führte er aus, dass ihm 51 Mitglieder aus der Branche Lebensmittel angehörten, die im Fernabsatz ähnliche Waren vertreiben würden.

Beeindruckt von den Ausführungen und ohne rechtlichen Beistand zu konsultieren, gab die Beklagte (nachdem sie glaubte, alle vergleichbaren Rechtsverletzungen abgestellt zu haben) im Mai 2019 eine modifizierte Unterlassungsverpflichtungserklärung mit der einleitenden Wendung „ohne Anerkenntnis einer Rechtspflicht, aber gleichwohl rechtsverbindlich” ab.

In der Folge dauerte es gerade einmal einen Monat, bis der IDO im Juni 2019 eine Vertragsstrafe i.H.v. 3.000,00 EUR forderte. Grundlage war ein Angebot, das nicht mehr auf der Website der Beklagten, sondern über Google zu finden war. Aufgrund des kurzen Abstands zwischen Abgabe der Unterlassungserklärung und Vertragsstrafe sowie der empfindlichen Höhe der Vertragsstrafenforderung, kamen bei der Beklagten Zweifel an der Berechtigung des IDO auf. Nachdem erste Onlinerecherchen ihren Verdacht bestätigten, kontaktierte sie sämtliche der ihr bekannten direkten Mitkonkurrenten*innen, von denen jedoch alle mitteilten, kein Mitglied des IDO zu sein. In der Konsequenz „kündigte” die Beklagte die Unterlassungsverpflichtungserklärung mit der Begründung, dass der IDO „keine ausreichende Anzahl von Mitgliedern mit der erforderlichen Größe, Marktbedeutung und wirtschaftlichem Gewicht, erst recht nicht im erforderlichen Umfang in der Nische, in der er sich verschrieben hatte” aufweise.

LG Nürnberg bejaht das Vorliegen einer sekundären Darlegungslast hinsichtlich der Voraussetzungen des § 8 Abs.3 Nr. 2 UWG bei Anbahnung des Unterlassungsverpflichtungsvertrages (LG Nürnberg, Urteil vom 4.6.2020, AZ. 19 O 5115/19)

Als die Beklagte sich daraufhin weigerte, der Vertragsstrafenforderung nachzukommen, erhob der IDO Klage. Zwar leitete sich die Aktivlegitimation der klageweise begehrten Vertragsstrafe aus der Unterlassungsverpflichtungserklärung ab, sodass es der Vorlage einer Mitgliederliste zum Nachweis der Aktivlegitimation nicht bedurfte. Allerdings spielte die Vorlage der Mitgliederliste dann doch noch auf andere Weise eine entscheidende Rolle. Denn das LG Nürnberg bejahte das Vorliegen einer sekundären Darlegungslast hinsichtlich derjenigen Mitglieder, die der IDO im Wege der Anbahnung des Unterlassungsverpflichtungsvertrages als Waren und Dienstleistungen gleicher und verwandter Art auf demselben Markt wie die Beklagte vertreibend dargestellt hatte.

Die Beklagte hatte sich zuvor darauf berufen, dass der IDO sie bei Anbahnung und Abgabe der Unterlassungsverpflichtungserklärung arglistig getäuscht habe. Nur durch die Vorlage der Mitgliederliste werde ihr ermöglicht, zu überprüfen, ob dem IDO zum Zeitpunkt der Anbahnung der Unterlassungsverpflichtungserklärung tatsächlich 51 Mitkonkurrent*innen angehörten, die Waren und Dienstleistungen gleicher und verwandter Art auf demselben Markt wie die Beklagte vertreiben. Ohne die Vorlage der Liste sei sie dazu gezwungen, „im Dunkeln zu stochern”. Das habe sie zwar versucht, sei dabei aber zu dem Ergebnis gekommen, dass keiner der Mitkonkurrent*innen Mitglied des IDO sein wollte, so das Vorbringen der Beklagten.

Der IDO hatte sich durchweg und trotz Hinweises des Gerichts unter Verweis auf das Urteil des BGH vom 17.1.2008, III. ZR 239/06 darauf berufen, dass er zur Vorlage der Liste nicht verpflichtet sei (dass die Beklagte Mitkonkurrent*innen kontaktiert habe, bestritt er dabei nicht vollends). Außerdem würden auch aus Gründen der Datensparsamkeit entsprechende Mitgliederdaten im vorliegenden Verfahren nicht zu den Akten gereicht, so der IDO.

LG Nürnberg: „Die Beklagte wurde vom IDO-Verband durch arglistige Täuschung zur Abgabe des Unterlassungsvertragsangebots bestimmt“

Das Gericht wies die Klage des IDO daraufhin ab. Es sei unstreitig, dass die Beklagte keine Kenntnis über die Mitglieder des IDO habe und ihr die Ermittlung der fraglichen Mitglieder nicht möglich sei. An Mitkonkurrent*innen gerichtete Nachfragen seien erfolglos geblieben, generell seien Mitglieder des IDO gegenüber der Beklagten auch nicht verpflichtet, Auskunft zu erteilen. Umstände, die gegen eine Zumutbarkeit der Mitgliederlistenvorlage sprächen, seien nicht ersichtlich. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Vorlage der Liste sei nicht dargelegt worden, außerdem sei gerichtsbekannt, dass der IDO über entsprechende Listen verfügt und entsprechende Listen in Verfahren, in welchen Unterlassungserklärungen gerichtlich erwirkt werden sollten, bereits vorgelegt hat. Die Beklagte habe umgekehrt detailliert dargelegt, aufgrund welcher Umstände sie nach Vertragsschluss, Abmahnung und Recherchen misstrauisch geworden sei. Diese Umstände seien auch nur teilweise bestritten worden.

Da der IDO seiner sekundären Darlegungslast nicht nachgekommen sei, ging die Kammer davon aus, dass die Annahme gerechtfertigt sei, dass der IDO die Beklagte bei Abgabe der Unterlassungserklärung über das Vorliegen ihrer Aktivlegitimation arglistig getäuscht habe. Weiter sei die Kammer davon überzeugt, dass die Beklagte durch die arglistige Täuschung zur Abgabe der Unterlassungserklärung bewegt wurde, sonstige Gründe für die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung seien nicht ersichtlich und aufgrund der damit verbundenen Risiken lebensfremd. Die Beklagte habe die Unterlassungserklärung wirksam angefochten, die Kündigung könne als eine solche ausgelegt werden, außerdem haben die Prozessbevollmächtigten der Beklagten diese binnen Jahresfrist zusätzlich angefochten.

Gegen das Urteil hat der IDO inzwischen Berufung eingelegt.

FAZIT:

Die Entscheidung des LG Nürnberg stärkt die Rechte von Online-Händler*innen, die eine Unterlassungserklärung überstürzt und ohne rechtliche Vertretung abgegeben haben. Dennoch ist im Falle einer Abmahnung das Aufsuchen rechtlichen Beistands dringend zu empfehlen.